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Wachstumsmarkt Medtech – Innovationen für die Zukunft

Technischer Fortschritt, demografische Entwicklung und Aufwertung der Lebensqualität stempeln Medizintechnik zum Wachstumsmarkt. Damit die Schweizer Industrie über die nötigen Spezialisten verfügt, bietet die Berner Fachhochschule Aus- und Weiterbildung in Mikro- und Medizintechnik, Biomedical Engineering und Medizininformatik. - Elsbeth Heinzelmann

Die Schweiz weist mit 3720 Betrieben die europaweit grösste Dichte an Medtech-Unternehmen pro Kopf auf, erzielt mit einem Umsatz von 22,9 Mia. CHF eine Bruttowertschöpfung von knapp 11,1 Mia. CHF* und bietet über 49 000 Vollzeitstellen**. Die Branche schätzt das Umsatzwachstum für 2011 auf 12 Prozent**, angetrieben durch Innovation. Diese entsteht an den Schnittstellen der Disziplinen.

Pionierarbeit mit gestickten Elektroden
Ein Beispiel dafür ist ein neuartiges Elektrodenarray für die elektrische Impedanztomographie (EIT). Mit diesem bildgebenden Verfahren lassen sich Querschnittsbilder des menschlichen Körpers nichtinvasiv und ohne ionisierende Strahlen realisieren. Die Anwendung wäre einfach, müsste man nicht die Elektroden einzeln aufkleben. In seinem Bachelor of Science in Mikrotechnik an der Berner Fachhochschule entwickelte Andreas Waldmann – zusammen mit dem Inselspital Bern und der Bischoff Textil AG in St. Gallen – einen Gürtel mit textilen Elektroden, der sich für die Überwachung von beatmeten Neugeborenen eignet. «Das kostengünstige Verfahren könnte auch in medizinisch unterversorgten Ländern wertvolle Dienste leisten», urteilt Andreas Waldmann. «Zumal die Empa daran ist, die Signalqualität der gestickten Elektroden weiter zu verbessern.» Das Projekt erhielt den Burgdorfer Innopreis 2011 (www.burgdorfer-innopreis.ch).

Pfiffiger Algorithmus senkt Datenflut
Eines Problems der Herzforschung nahm sich Jonas Reber in seinem Studium der Elektro- und Kommunikationstechnik an. Um mehr über die Funktionsweise von Herzzellen zu erfahren, zapfen Wissenschaftler mit Mikroelektroden die Membranen tierischer Zellen an. Dazu bringen sie hunderte kleinster Elektroden auf ein Array, stimulieren damit die Zellen und messen ihre elektrophysiologischen Reaktionen. Die immer höhere Zahl von Elektroden erschwert die Verarbeitung der Signale. «Misst man mit einem 1024-Elektroden-Array, wächst die Datenmenge auf über 70 GByte pro Stunde», so Jonas Reber. Zusammen mit Kollege Christian Dellenbach fand er heraus, dass es gar nicht nötig ist, die gesamten Elektrodensignale auszuwerten, sondern nur die auf Aktionspotenzialen beruhenden Peaks, indem man die Ruhephasen zwischen den Aktionspotenzialen ausschaltet. Dazu entwickelten sie unter Leitung von Prof. Volker M. Koch, Dozent für Medizintechnik an der BFH-TI, einen Hardware-Algorithmus, der die Daten in Echtzeit verarbeitet und die Datenmenge um mindestens 90 Prozent reduziert. Das Verfahren ermöglicht es Herzforschern, wirksame Therapien und Medikamente zu entwickeln.

Problemlösung für Wiederkäuer
An der Wiederkäuerklinik der Universität Bern erforscht Prof. Mireille Meylan seit Jahren die Blinddarmdilatation/-dislokation (BDD) bei Milchkühen. Aus noch unerklärbaren Gründen kommt es bei den Tieren plötzlich zu einer Verlagerung des Labmagens und einer Dilatation des Darmes durch Gase. Die Veterinärmedizinerin hatte nun die Idee, die Transitzeit des Darminhaltes zwischen den verschiedenen Darmabschnitten und dem Enddarm der Kühe zu messen. Damit wollte sie feststellen, ob sich Kühe nach BDD von gesunden Kontrollkühen unterscheiden und ob es Abweichungen gibt zwischen Kühen, die sich normal erholen, und solchen mit verzögerter Erholung oder einem Rückfall. Die Messung erlaubt es, die Stelle im Darm zu lokalisieren, wo die zur BDD führende Störung entsteht. Entstanden ist eine Kapsel mit eingebautem Thermometer und Timer, welche die Transitzeit im Darm der Kühe misst und die Daten auf einen PC zur Auswertung transferiert. Den Energiebedarf des Mikrosystems decken zwei 1,55 V Silberoxid-Zellen. Die Kapsel aus biokompatiblem Polyoxometalat misst 8 x 25 mm, der darin untergebrachte Transmitter 3 x 3 mm und der Temperatursensor 1,6 x 1,6 mm. Das System lässt sich sterilisieren und wiederverwenden, wobei die Materialkosten unter 15 CHF zu stehen kommen.

Pioniere in Medizininformatik
Eine wichtige Brückenbauer-Funktion kommt der Medizininformatik zu, denn eine medizinische Versorgung auf qualitativ hohem Niveau ist heute ohne systematische Erfassung, Aufbereitung und Verarbeitung von Informationen nicht denkbar. Die BFH-TI bietet deshalb seit 2004 den Weiterbildungsmaster «Medizininformatik» an. Es geht darum, die multidisziplinären und multifaktoriellen Probleme der Medizinwelt mit technischen, informatiktechnischen, sozialen und betriebswirtschaftlichen Aspekten anzugehen. Dazu werden Living-Case-Aufgaben in unterschiedlich zusammengesetzten Teams gelöst und so das berufliche Wissen der Beteiligten aus Technik, Informatik und Medizin ausgenutzt. Um den Praxisbezug zu gewährleisten, wurden über hundert Dozierende aus Spitälern, Ämtern und Unternehmen beigezogen. Um der wachsenden Nachfrage nach MedizininformatikerInnen zu begegnen, lanciert die BFH-TI ab Herbst 2011 als Novum für die Schweiz ein Bachelorstudium Medizininformatik. Darin lernen die Studierenden, klinisches Know-how und Wissen um Arbeitsabläufe im Gesundheitswesen mit den Grundlagen der informatik-technischen Welt zu verknüpfen, und werden vertieft in Projektmanagement ausgebildet. In ihrem beruflichen Umfeld führen sie Anwendungen von «Information & Communication Technologies» in den klinischen Alltag ein und müssen die Sprache der Computerwissenschaften und der Medizin gleichermassen beherrschen.

Blick in die Zukunft
«Gesundheit hat ihren Preis. Der Gesundheitssektor ist der grösste Arbeitgeber in allen Industrieländern», so Professor Christian Lovis der Division of Medical Information Sciences am Universitätsspital Genf. Genf, mit 200 Mitarbeitenden in medizinischer Informatik eine der grössten Gruppen in der Schweiz und in Europa, betreibt auch Forschung und Entwicklung. Daniel Voellmy, Informatik, Direktion Dienste am Inselspital Bern, sieht hinter der Medizininformatik in Spitälern drei Haupttreiber – Fortschritt in Medizin, IT und der Gesellschaft. «Wer Microblogging, Instant Messaging oder Anwendungen wie Google, Wikipedia und Facebook täglich benutzt, darf Ähnliches auch in der Spitalwelt erwarten. Doch bis dahin stehen noch Jahre spannender Entwicklungsarbeit an. Vielleicht werden wir einst den Traum vieler Kliniker verwirklichen können, die Komplexität der Spitalwelt hinter ganz einfachen, selbst erklärenden Apps verschwinden zu lassen.»
www.ti.bfh.ch/med
www.ti.bfh.ch/medtec
www.ti.bfh.ch/medinf

*FASMED (bezogen auf 2008)
**Schweizer Medizintechnikindustrie Report