chevron_left
chevron_right
Management

Wenn Normen zu neuer Denkweise führen

In der Medizintechnik steht die Sicherheit an oberster Stelle, dafür sorgen umfassende Richtlinien. Betroffen sind nicht nur Hersteller von medizinischen Geräten, sondern auch Zulieferer. Mit der neuen Ausgabe der Norm für Medizingeräte etabliert sich nun eine Denkweise, die sich auch in anderen Branchen gewinnbringend umsetzen lässt. - Amadeo Vergés

Ein Zulieferer kennzeichnet seine Produkte, zum Beispiel einen elektrischen Antrieb, vorschriftsgemäss mit einer Etikette, die Seriennummer und Produktionslos angibt. Dabei verwendet er einen Klebstoff, der auch hohen Temperaturen und Feuchtigkeit standhält. Doch nun verlangt einer seiner Kunden, ein Gerätehersteller aus der Medizintechnik, dass Seriennummer und Produktionslos mit Laser eingraviert werden. Der Grund: Die Risikoanalyse beim Gerätehersteller ergab, dass die Schrift auf den Etiketten verblasst – dies kann für sein Gerät ein Sicherheitsrisiko bedeuten.
Das einfache Beispiel zeigt, wie sich die strengen Vorschriften in der Medizintechnik auch auf andere Branchen auswirken. Unternehmen, die Geschäftsbeziehungen zur Medizintechnik pflegen, sind daher gut beraten, sich frühzeitig mit der Thematik auseinanderzusetzen und die nötigen Massnahmen in die Wege zu leiten. Ansonsten kann ein Unternehmen plötzlich vor unerwarteten Herausforderungen stehen, wie der Zulieferer im obigen Beispiel: Er fertigt runde Teile – wo soll da die Gravur mit Laser aufgebracht werden? Eine aufwendige und teure Umstellung der Produktion ist die Folge. Er muss in kurzer Zeit eine Lösung finden. Doch seine Entwicklungsingenieure sind mehr als ausgelastet und Kosten für externe Kapazitäten sind nicht im Budget vorgesehen.
Die Auseinandersetzung mit den umfassenden Vorschriften ist aufwendig, sie eröffnet jedoch auch neue Chancen. Denn die Normen der Medizintechnik werden ständig weiterentwickelt. Sie fokussieren nicht mehr nur auf die Sicherheit, sondern beinhalten auch wertvolle Richtlinien für die Produktentwicklung. So etabliert die neue Ausgabe der Norm ISO/IEC 60601-1-6 eine neue Denkweise. Bisher galt in der Medizintechnik der Ansatz: «Wir entwickeln und verkaufen ein Produkt. Dazu geben wir Anweisungen für den Gebrauch – diese einzuhalten, liegt in der Verantwortung des Anwenders.» Neu gilt die Devise: «Wir entwickeln und verkaufen ein Produkt, das einfach, intuitiv und damit sicher zu bedienen ist. Wir sehen unbeabsichtigte Fehlmanipulationen voraus und sorgen dafür, dass der Benutzer auch in diesen Situationen weitgehend geschützt ist.»


Risiken aktiv angehen
Hinter der veränderten Denkweise steht die risikogetriebene Produktentwicklung. Der Ansatz ist nicht neu – zahlreiche Unternehmen, darunter auch Zühlke, setzen bereits seit längerer Zeit auf dieses Prinzip. Denn Risiken frühzeitig und aktiv anzugehen, ist
keine pessimistische Grundhaltung, sondern der einzig richtige Ansatz – nicht nur für die Entwicklung medizinischer Anwendungen,
sondern auch für Produktentwicklungen in anderen Branchen. Dabei geht es nicht darum, alle Risiken auszuschliessen. Es gilt, inakzeptable Risiken früh zu identifizieren und dann zu beseitigen oder zu minimieren. Dies macht ein Risikomanagement über den gesamten Lebenszyklus des Produkts nötig – von der Entwicklung bis zur Entsorgung. Risiken müssen aktiv lokalisiert, bewertet und reduziert werden. Dazu müssen auch die Risiken beim Einsatz der Produkte und damit das Umfeld des Kunden beachtet werden. Dies hätte dem Zulieferer des elektrischen Antriebs Aufwand erspart: Im Wissen, dass die Etiketten beim Gebrauch verblassen, hätte er frühzeitig eine andere Lösung suchen können. Denn wenn Risiken erst in einer späten Entwicklungsphase erkannt werden, sind die Änderungen meist umfangreich. Dies verzögert das Projekt und kann hohe Kosten verursachen. Mit einem strukturierten Risikomanagement lässt sich dies verhindern. Die Produktentwicklung wird effizient und damit insgesamt kostengünstiger.

Freiraum für alternative Lösungen
Die risikogetriebene Produktentwicklung eröffnet neue Betrachtungsweisen und alternative Lösungswege. Damit gibt sie Freiraum, ohne dass das nach wie vor unbestrittene und oberste Ziel der Personensicherheit aus den Augen verloren wird – ganz im Gegenteil: Der Hersteller trägt mehr Verantwortung für ein ausgereiftes, sicheres Produkt.
Unternehmen, die bereits risikogetrieben arbeiten, begrüssen die neue Norm. Ist das Konzept jedoch nicht verankert, führt die Umsetzung zu gravierenden Eingriffen in die bestehenden Pro-zesse. Dies kann zu einer grossen Hürde werden. Denn Risiken zu bewerten heisst auch, Massstäbe zu definieren, um Risiken zu beurteilen. Entscheidend ist zudem der richtige Umgang mit dem Thema: Risiken dürfen nicht mit Problemen verwechselt werden. Wer sie aktiv sucht, ist kein notorischer Schwarzmaler, sondern übernimmt Verantwortung für seine Arbeit. Diese Grundhaltung muss in der Unternehmenskultur verankert sein – hier ist das Top-Management gefordert.

Hohe Usability
Der geschilderte Denkansatz bleibt aber nicht allgemein, sondern greift in die einzelnen Disziplinen einer Geräteentwicklung. In der Medizintechnik ist zum Beispiel auch ein anderer Aspekt bedeutend: die Usability. Ein Gerät muss einfach und eindeutig zu bedienen sein; der Benutzer soll damit intuitiv arbeiten können. Auch dies gilt nicht nur für die Medizintechnik, sondern auch für andere Branchen. Die Norm der Medizintechnik schreibt einen nachvollziehbaren Prozess vor, um die Gebrauchstauglichkeit während der gesamten Entwicklung zu analysieren, zu gestalten und zu validieren. Entgegen der Erwartung vieler Hersteller sind jedoch keine Anforderungen an das Produktdesign enthalten. Die Norm macht auch keine konkreten Aussagen, wie eine hohe Usability nachgewiesen werden kann, sondern nur, dass entsprechende Massnahmen getroffen werden müssen. Dies stellt viele Unternehmen vor grosse Herausforderungen: Sie müssen geeignete Kriterien und Prozesse definieren. Dazu braucht es neben fundierter Fachkompetenz eine breite Erfahrung, um Best Practices oder allenfalls bereits bestehende regulatorische Vorgaben heranzuziehen.
Hersteller von Medizinprodukten – und auch ihre Lieferanten – sind jetzt gefordert, die Auswir-kungen der neuen Norm auf ihre Entwicklungsprozesse und Abläufe zu prüfen und die nötigen Massnahmen in die Wege zu leiten. Der Aufwand lohnt sich jedoch: Der risikogetriebene Ansatz in der Produktentwicklung, gepaart mit den technologischen Aktualisierungen der Norm, ermöglicht eine rasche, effiziente und dadurch kostengünstige Entwicklung und Produktion. Die neue Ausgabe der Norm ist ein grosser Schritt, von dem auch Unter nehmen in anderen Branchen profitieren können.

Zühlke Engineering AG
8952 Schlieren, Tel. 044 733 66 11
www.zuehlke.com


Late Afternoon Talks – Mut zur Medizintechnik!
Haben Sie auch schon mit dem Gedanken gespielt, in der Medizintechnik Fuss zu fassen? Dann besuchen Sie die nächsten Late Afternoon Talks, wo Ihnen Anregungen dazu vermittelt werden. Vier spannende Vorträge zeigen, wie einer Firma der Sprung in die Medizintechnik gelang, welche Konzepte hinter den neuen Normen in der Medizintechnik stehen und wie Hersteller durch Design das Vertrauen der Kunden gewinnen.
Medizinische Produktentwicklung: Fokus Risiko – Amadeo Vergés, Business Unit Leiter, Zühlke Engineering AG
Strategien zum Testen von Medizingeräte-Software – Erich Studer, Director of Software Systems, NovaShunt AG
Ein etabliertes Produkt wird medizinisch – Christian Holzgang, Business Unit Manager Maxon Medical,
Maxon Motor AG
Vertrauen durch Design – Kristine Larsen, Entwicklung, Design + Konstruktion, Andromeda medizinische Systeme GmbH
Datum und Ort: 21. Juni, 16 bis 19 Uhr, Kursaal Bern
22. Juni, 16 bis 19 Uhr, Zühlke Engineering AG, Schlieren
Kosten: CHF 150.– pro Teilnehmer
Anmeldung: Stephanie Albert, stephanie.albert@zuehlke.com
www.zuehlke.com/lat-medical