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«Wer nicht normt, wird genormt!»

Die SNV, Schweizerische Normen-Vereinigung, in Winterthur ist das Bindeglied zwischen der schweizerischen und der internationalen Normenwelt. Der Vizedirektor der SNV, Urs Fischer, Leiter Normung und internationale Beziehungen, zeigt im Exklusivinterview mit TR-Redaktor Markus Schmid den Stellenwert auf, den Normung einnimmt, erklärt, wie dynamisch der Normungsprozess abläuft und wie wichtig es ist, dass Unternehmen aktiv daran teilnehmen.

Herr Fischer, wo drückt der Schuh, wenn Sie an die Schweizer Normungsarbeit denken?
Eine Sorge ist, dass die Maschinenindustrie sich zunehmend aus der aktiven Mitarbeit am Normungsprozess zurückzieht. Sprechen wir von der SNV dieses abnehmende Interesse an, erhalten wir von den Unternehmen die Antwort: «Uns fehlen die Ressourcen, zudem sind die nötigen Normen gemacht, und wir wenden sie an. Uns braucht es da nicht.» Erst wenn ich einwende: «Aufgepasst, zunehmend engagieren sich die Asiaten und bestimmen, was in den Normen steht!», dann tönt es plötzlich anders: «Ach so? Dann sollten wir uns schon einbringen!» Auf die Begründung, dass man seit zwanzig Jahren mit den bestehenden Normen gut arbeite, entgegne ich jeweils: «Eure Produkte werden ja auch weiterentwickelt, ihr seid innovativ, ihr produziert auch nicht zwanzig Jahre das genau Gleiche.»

Kann sich dieses lethargische Verhalten geschäftsschädigend auswirken?
Bereits im Produktentwicklungsprozess sollte man die Normung einbeziehen, um zu vermeiden, dass den entwickelten Produkten die Marktakzeptanz versagt bleibt. Es gibt ganz einfach Themen, bei denen die Schweiz aufgrund der Kompetenz mit am Tisch sitzen müsste, jedoch schlecht bis gar nicht vertreten ist. Wir müssen Aufklärungsarbeit leisten, auch in Bezug auf die periodische Überprüfung aller Normen im Fünfjahresrhythmus, wo entschieden wird, ob eine Norm unverändert beibehalten, angepasst oder – weil sie überflüssig geworden ist – abgeschafft wird. Das wissen die allerwenigsten. Wir müssen darstellen, was man da für Möglichkeiten hat.

Ist dies das einzige Problemfeld?

Meine zweite Sorge ist, dass die SNV zu wenig sichtbar ist. Man kennt uns zu wenig. Wir haben in der Schweiz etwa 300 000 KMU. Hätten wir nur schon 10 Prozent von denen als Mitglieder, wären das 30 000, wir haben aber nur knapp 700. Es wäre wünschenswert, wenn sich die Schweiz in der anerkannten Normung stärker einbringen würde. Das zu ändern, ist eine Sisyphusarbeit, da wir viel individuelle Überzeugungsarbeit leisten müssen. Unser Auftrag ist es, Betroffene und Interessierte auf neu aufkommende Normen und Normungsthemen aufmerksam zu machen, damit sie die Gelegenheit der Einflussnahme in einem Normenkomitee wahrnehmen können. Aber wir können niemanden dazu zwingen.

Den 22 011 übernommenen CEN- und ISO-Normen stehen 1069 nationale Normen gegenüber. Wie wichtig sind diese noch?
Die Bedeutung der nationalen Normen nimmt stetig ab. Wichtig ist, dass wir bei der europäischen und internationalen Normenerarbeitung Einfluss nehmen, vor allem in Gebieten, wo wir Kernkompetenzen haben, und in solchen, die wichtig sind für unsere Volkswirtschaft. Wir wollen keine helvetischen Normen, aber wir wollen unsere Experten an den Tisch bringen in Europa und weltweit, damit sie den Schweizer Aspekt einbringen.

Wie wird über die Annahme einer Norm abgestimmt?

Im ISO-Bereich hat jedes Land eine Stimme. Die Zweidrittelmehrheit zählt. Auf europäischer Ebene erfolgt die Ratifizierung einer Norm in einem zweistufigen Verfahren, das verhindert, dass eine Interessengruppe total dominiert. In Europa ist jedes Land verpflichtet, an der Abstimmung teilzunehmen. Eine Enthaltung muss begründet werden. Es gibt nur zwei Gründe: Entweder es gibt keine Expertenmeinung in diesem Land zur vorgeschlagenen Norm, etwa zu Skibindungen in Malta, oder im Land findet sich kein Experte, der bereit ist, teilzunehmen.

Wie kann ein Schweizer Unternehmen die Normung beeinflussen?

Einen wesentlichen Wettbewerbsvorteil kann sich ein Unternehmen verschaffen, wenn es als Teil einer Pionierstrategie eine spezifische Norm erarbeitet und zur Publikation bringen kann. Das Unternehmen gibt somit seinen Standard im ersten Entwurf vor. Im weiteren Verlauf sitzen natürlich auch andere Experten am Tisch und machen ihren Einfluss geltend. Das Unternehmen kann aber davon ausgehen, dass zwischen 50 und 70 Prozent davon erhalten bleibt. Das ist dann sein Vorteil, weil es ab diesem Punkt weiter entwickeln und so den Vorsprung auf die Konkurrenten ausnützen kann.

Zahlt sich die Mitarbeit in einem Normkomitee aus?

Für uns ist es schwierig, den wirtschaftlichen Nutzen von Normungsarbeit für ein Unternehmen zu quantifizieren. Man müsste den Effekt der Mitarbeit und den des Wegbleibens beziffern und einander gegenüberstellen können. Was Experten, die auf internationaler Ebene arbeiten, auf jeden Fall sofort dazugewinnen, ist das weltweite Netzwerk von Spezialisten, die im gleichen Segment tätig sind. In einem Normkomitee trifft man sich nicht auf einer kompetitiven Ebene, sondern eher wie an einem Mediations-Round-Table, denn Normung geschieht durch das Erarbeiten eines Konsenses. Man beobachtet oft, dass dabei Menschen aus völlig verfeindeten Nationen – etwa Palästinenser und Israelis, aber auch härteste Konkurrenten – problemlos miteinander diskutieren.

Können Komiteemitglieder selbst mitentwickelte Prozesse besser ausschöpfen als solche, die zwar entwickeln, aber nicht aktiv bei der Normung mitarbeiten?

Absolut! Es ist auch ein Aspekt der Investitionssicherheit. Man investiert in eine Technologie oder Infrastruktur ganz anders, wenn es Normen dazu gibt und man das Wissen um diese hat, oder wenn man sie sogar selbst vorschlägt, als wenn es nichts dazu gibt.

Ist sich die Branche der Zusammenhänge in der von Ihnen beschriebenen Normungswelt bewusst?
Das ist genau der Knackpunkt: dass die Schweizer Unternehmen den Prozess zu wenig kennen. Das ist einerseits verständlich, weil Normung aus dem Maschinenbau, der Elektro- und Bautechnik hervorging und deshalb immer noch ein sehr technikbehaftetes Image hat. Tatsächlich hat sich die Normungsarbeit in den letzten zehn Jahren aber dramatisch verändert. Es werden mehr und mehr bereichsübergreifende, gesellschaftlich relevante Normen in Bezug auf Gesundheit, Sicherheit und Umweltaspekte erarbeitet. Diese Tatsache ist zu wenig bekannt. Das müssen wir ändern. Wir entwickeln im Moment auch Konzepte für die Verankerung der Normung in der Ausbildung, damit angehende Berufsleute die Bedeutung der Normung erkennen. Wir halten Referate über Normung vor Studenten, zeigen auf, dass auf Normen Einfluss genommen werden kann.

Wie gross ist die Gefahr, dass sich jemand eine für ihn nachteilige Norm auf die Stirn drücken lassen muss?

In den Normungskreisen pflegen wir den Spruch: «Wer nicht normt, wird genormt.» Aber die von Ihnen erwähnte Gefahr ist gering. Es kann schon sein, dass eine Branche einmal etwas verschläft. Manchmal wird ein Problem erst als solches erkannt, wenn die Norm herauskommt. Das betrifft dann aber meist nur einzelne Firmen. Das typische Telefongespräch mit einem Unternehmer tönt dann so: «Ich habe für mein Produkt – oder für eine Prüfanlage – in die falsche Richtung investiert, denn jetzt verlangt eine europäische Norm etwas ganz anderes. Wieso haben Sie, Herr Fischer, mir das nicht gesagt?» Da kann ich nur entgegnen: Wir publizieren monatlich das Bulletin «Information Switec», das aktuell über Normen informiert, und das jeder, auch Nichtmitglieder, auf der SNV-Website abrufen kann.

Wie verfährt die SNV, wenn eine ganze Branche betroffen ist?

Wenn tatsächlich eine Norm auf internationaler Ebene herauskommt, die einem ganzen Industriezweig Verluste beschert, haben wir Möglichkeiten zu intervenieren. Bedingung ist, dass man tatsächlich einen bezifferbaren Schaden nachweisen kann. Ausserdem gibt es bei der WTO ein Komitee TBT, «Technical Barrier to Trade», welches das Aufkommen von technischen Handelshemmnissen überwacht. Dieses besagt klar, dass Normen geschaffen werden sollen, um Handelshemmnisse abzubauen, nicht um sie aufzubauen, wie es noch vor vierzig Jahren aus protektionistischen Gründen der Fall war. Über dieses TBT-Komitee kann man ebenfalls intervenieren.

Wie viele Normanträge erhält die SNV pro Jahr?
Insgesamt aus der Schweiz für nationale und internationale Normen fünf bis zehn Anträge jährlich. Pro Jahr werden zusätzlich gut hundert Anträge für neue Normen bei den europäischen und weltweiten Normenorganisationen eingereicht, über die wir befinden müssen, ebenso wie über die tausend periodischen Überprüfungen von bestehenden Normen pro Jahr. Etwa achzig Prozent sind sinnvoll, werden also weiterverfolgt.

Was liegt Ihnen noch am Herzen?
Gerade bei den neuen transversalen, gesellschaftlich relevanten Themen wäre es vorteilhaft, wenn über eine Anschubfinanzierung durch die öffentliche Hand die Schweiz international mehr Gewicht erhalten könnte. Ich denk da zum Beispiel an Normen in Themenfeldern wie Umwelt oder Nanotechnologie. Bei solchen Themen, die sich über alle möglichen Bereiche erstrecken – von der Pharma- über die Kunststoff- bis zur Nahrungsmittelindustrie – wartet jeder in seiner Branche nur auf die Norm, ohne sich einzubringen. Das kann sich rächen, denn wir brauchen in den Komitees ausgewogene Expertengruppen, damit alle Anspruchsgruppen von einer neuen Norm profitieren können. •
- Markus Schmid

SNV Schweizerische Normen-Vereinigung
8400 Winterthur, Tel. 052 224 54 54
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