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AM-Übernahmen: Suche nach Perlen der Prozesskette läuft

Die Suche nach den Perlen der Prozesskette ist der Motor, der im Moment in der Additive-Manufacturing-Welt ein Übernahmekarussell am Drehen hält. Der Hintergrund: Mittlerweile haben auch die grossen Industriekonzerne erkannt, dass es sich bei AM um eine Technologie handelt, die konventionelle Geschäftsmodelle in Zukunft grundsätzlich verändern kann und sie sind daran, sich einen möglichst grossen Teil der Prozesskette zusammenzupuzzeln.

Die Newsticker der Wirtschaftspresse und der auf AM fokussierten Online-Medien sprechen eine deutliche Sprache: In der 3D-Printing-Branche geht es ums Prinzip Fressen oder gefressen werden. Paradoxerweise liegt dies nicht etwa daran, dass es der Branche schlecht ginge und ein erbarmungsloser Verdrängungkampf herrschen würde, sondern daran, dass der industrielle 3D-Druck gerade sein zweites Hoch nach dem ersten Hype um 2014 und der nachfolgenden Abschwächung erlebt. Dazu illustrierend die jüngsten Schlagzeilen aus diesem noch jungen Kalenderjahr: Am 6. Januar lesen wir «Prodways Group erwirbt Surdifuse-L’Embout Français mit dem Ziel, in Europa führender Hersteller von 3D-gedruckten, kundenspezifischen Hörgeräten zu werden»; am 18. Januar lautet die Schlagzeile für die Branche: «Kunststoffpulver für die additive Fertigung – Evonik kauft US-amerikanisches 3D-Druck-Start-up Structured Polymers» und am 12. Februar erfahren wir «Mehr Marktpräsenz in Nordamerika – 3D-Drucker-Hersteller EOS kauft das Stratasys Spin-Off Vulcan Labs».

 

Übernahmen und Kooperationen en masse

Wem dies nicht genug Beleg dafür ist, dass in der 3D-Druck-Branche momentan die Fusionitis herrscht, den überzeugt möglicherweise die folgende Zusammenstellung. Wir zählten bei einer Abfrage zu Firmenübernahmen im Online-Magazin «3d-grenzenlos» total 29 Meldungen vom 15. November 2013 bis 12. Februar 2019, also gut fünf Übernahmen pro Jahr. Zum Stichwort Unternehmenskooperationen wurden im Zeitraum vom 17. Februar 2014 bis 12. März 2019 deren 152 aufgelistet. Das sind nur die Vorgänge, die auch per Pressemeldung an die Öffentlichkeit gelangten. Es ist anzunehmen, dass solche Deals in China bei uns in Europa nicht publik werden. Die effektive Anzahl an Übernahmen und Kooperationen dürfte also noch höher liegen. Unsere Recherchen ergaben übrigens auch, dass es scheinbar keine umfassende Zusammenstellung dazu gibt.

 

Grosskonzerne steigen ein

Den wohl spektakulärsten Einstieg in die AM-Welt legte der Mischkonzern General Electric im Herbst 2016 hin. Die damals neugegründete Division «GE additive» schluckte kurzerhand für über eine Milliarde Dollar mit Concept Laser und Arcam AB gleich zwei Top-Anlagenhersteller. Seither wissen wir: Additive Manufacturing (AM) ist bei allen Akteuren der Industrie angekommen. Die Führungsetagen der grossen Konzerne müssen diese Technologie in ihre strategischen Überlegungen einbeziehen, wenn sie in Zukunft mitverdienen wollen.

 

Natürlich ist dies auch bei Siemens nicht anders. Der Riese ist an einer kaum zu überblickenden Anzahl von Kooperationen beteiligt, die praktisch alle wichtigen Anlagenhersteller sowohl im Metall- wie im Kunststoffbereich umfasst. Hinzu kommt, dass man bereits eine lange Liste von Übernahmen abgearbeitet hat und eigene AM-Produktionseinheiten betreibt. Dabei fällt auf, dass Siemens noch keinen grossen Anlagenbauer aufgekauft hat, wohl gerade deshalb, weil man mit fast allen kooperiert. Das Ziel scheint klar: Während andere wie GE additive möglichst die ganze Produktionskette vom Ausgangsmaterial bis zur kompletten Nachbearbeitung der Bauteile im eigenen Haus haben wollen, geht Siemens den Weg über die Software und setzt so die komlette Prozesskette zusammen.

 

Karsten Heuser, Vice President Additive Manufacturing, Center of Competence Digital Factory der Siemens AG, erklärte anlässlich der Formnext im Oktober 2018: «Das Siemens Digital Enterprise Portfolio ist die einzige Lösung, die die gesamte digitale Prozesskette in einer einzigen integrierten und assoziativen Softwareumgebung abbildet und damit über eine einheitliche Benutzeroberfläche für Maschinenbauer und Anwender bedienbar ist. Die Tools für Entwicklung, Simulation, Produktionsvorbereitung und 3D-Druck sind in einem durchgängigen System zusammengefasst und konnten in den letzten 12 Monaten deutlich erweitert werden. Somit ist keine fehleranfällige Datenkonvertierung mit möglichem Verlust an Informationsgehalt nötig. Mit diesem Ansatz helfen wir den Maschinenbauern und Anwendern beim Übergang von der Prototypen- und Kleinserienproduktion mit Einzelmaschinen hin zur voll industrialisierten Serienproduktion.»

 

Gewinner sind im Moment alle Beteiligten. Die Anlagenbauer, weil sie nach einer Übernahme meist über genug Kapital verfügen, um entweder ihre eigene Produktions- oder F+E-Kapazitäten hochzufahren oder um selbst kleinere Startups aufzukaufen, deren Kompetenzen es ihnen ermöglichen, Lücken in der eigenen Prozesskette – etwa im Software-Bereich – zu schliessen. Aber auch die Hersteller von Ausgangsstoffen wie Kunststoffpulver, -filamente oder -granulate, von Metallpulver oder Photopolymeren sehen  neue Geschäftsfelder entstehen. So sind etwa Heraeus, Voest­alpine und die Oerlikon Group mit ihrer Konzerntochter Oerlikon AM als Anbieter von Metallpulvern eingestiegen. Bereits im Juli 2017 hat Oerlikon AM zudem eine Zusammenarbeit mit GE additive zu Entwicklungszwecken vermeldet und sich gleichzeitig für fünf Jahre einen bevorzugten Zugang zu den Anlagen der US-Amerikaner gesichert.

 

Ein ähnliches Bild bietet sich im Kunststoffbereich: Von Evonik haben wir weiter oben bereits gehört. BASF kooperiert mit dem belgischen Materialhersteller Materialise und mit dem texanischen Printerhersteller Essentium, daneben aber auch mit dem Grossdruckerhersteller Big-Rep sowie mit EOS und dem japanischen Druckerpionier Ricoh. Ricoh hat seinerseits im Juli 2018 vermeldet, dass man 1,8 Milliarden US-Dollar in Firmenübernahmen und Fusionen mit 3D-Druck-Unternehmen investieren will.

 

Renommierte Berater stellen die Ampeln auf Grün

Die Goldgräberstimmung wird seit letztem Jahr von Beratungsunternehmen zumindest bestätigt, wenn nicht angeheizt. Noch vor vier Jahren wiesen sie darauf hin, dass die Preise insbeondere in dem für den Automobil- und Luftfahrtbereich interessanten Metallsegment sowohl für Anlagen und Pulvermaterialien viel zu hoch und andererseits die Bauräume und Aufbauraten noch zu gering seien. Heute tönt es schon weit positiver. Deloitte Global prognostiziert in der jüngsten Studie von Oktober 2018, dass die durch AM generierten Umsätze von börsenkotierten Grossunternehmen – einschliesslich AM-Anlagen, Materialien und Dienstleistungen – im Jahr 2019 den Wert von 2,7 Mrd. US-Dollar übersteigen und im Jahr 2020 die Grenze von 3 Mrd. Dollar erreichen werden. Weiter soll die 3D-Druckindustrie in diesen Jahren je um 12,5 Prozent wachsen und ihre Wachstumsrate von vor einigen Jahren damit mehr als verdoppeln.

 

Diese Zahlen müssen sich, wie in jeder Prognose, noch bewahrheiten. Andere Studien nennen teils stark abweichende Zahlen, insbesondere wenn sie älteren Datums sind und sie ihre Zahlen bis ins Jahr 2025 extrapolieren. Im Vergleich zu diesen vermögen die Zahlen von Deloitte jedoch aus zwei Gründen zu überzeugen: Einerseits stammen sie von der umsatzstärksten Management-, Strategieberatungs- und Wirtschaftsprüfungsgesellschaft der Welt, was bedeutet, dass man dort sicher über eine genug breite Datenbasis verfügt. Zweitens stellt das Unternehmen laut eigener Darstellung bei seinen Erhebungen ausschliesslich auf grosse börsennotierte Unternehmen ab. Es werden dabei nur geprüfte Finanzzahlen – historische wie aktuelle – aus öffentlich zugänglichen Quellen verarbeitet und vierteljährlich aktualisiert. An dieser Stelle sei auch erwähnt, dass Deloitte sich selbst seit Oktober 2017 in einer Partnerschaft mit dem US-amerikanischen Druckerhersteller HP als Akteur in der AM-Welt engagiert, mit dem Ziel «die 3D-Drucksysteme von HP in grosse Produktionsumgebungen einzuführen». Bei Roland Berger Consulting setzt sich Partner Bernhard Langefeld seit Jahren mit dem Thema AM auseinander. Seine Einschätzung lautet: «Additive Manufacturing ist derzeit im Vergleich zu konventionellen Fertigungsmethoden in der Massenproduktion immer noch nicht konkurrenzfähig. Der Markt wartet auf den nächsten, grossen Innovationssprung.» In der gleichen Studie kommen er und seine Mitarbeiter aber auch zum Schluss, dass das in der Industrie am weitesten verbreitete Verfahren zur Metallpulververarbeitung, Selective Laser Melting (SLM), bereits deutlich preisgünstiger geworden ist. Zitat: «Die Preise für diese Technologie sind in den vergangenen Jahren gefallen und bis 2020 werden weitere Effizienzsteigerungen im zweistelligen Prozentbereich erwartet.»

 

Die Gründe für das Auf-und-Ab der AM-Branche

Woher dieser Sinneswandel? Die zwischenzeitliche Skepsis gegenüber AM als industrietauglichem Verfahren war eine Folge des Hypes der Jahre 2013 bis 2015, in denen der 3D-Druck wie viele neue Technologien zu einem gewissen Grad überbewertet wurde. Die breit kommunizierten Erwartungen, wie etwa grenzenlose Designfreiheit und Bauteile auf Knopfdruck hielten einer Überprüfung nicht stand, abgesehen davon, dass Aspekte wie die Bauzeit und die Preisgestaltung meist ignoriert wurden.

 

Die Erholung bei den Wachstumsaussichten für die Technologie in den aktuellen Bewertungen hat mehrere Gründe. Ein entscheidender Grund ist, dass zahllose Patente, welche die Technologieführer seit den frühen 1990er Jahren gehalten haben, ausgelaufen sind. Das bringt einerseits neue Anbieter auf den Plan und belebt so die Konkurrenz auf dem Markt. Andererseits müssen die etablierten Leader selbst ihr Portfolio weiterentwickeln, um ihren Vorsprung halten zu können. Weiter kommen immer mehr verarbeitbare Materialien auf den Markt. Im Jahr 2014 war die Liste der Materialien, die im 3D-Druck verwendet werden konnten, bereits lang, jedoch noch weit weg von der Vielfalt, die in der konventionellen Teilefertigung verwendet wird. Bis Anfang 2019 hat sich jedoch laut Deloitte die Liste der 3D-druckbaren Materialien seit 2014 mehr als verdoppelt.

 

Schliesslich steigen wie erwähnt eine Reihe von Grosskonzernen in den AM-Markt ein, loten die Möglichkeiten aus und drängen die gesamte Branche zu noch schnelleren Innovationen. Diese Unternehmen bringen Forschungsinvestitionen, Glaubwürdigkeit und grosse Kundenstämme mit und vergrössern ganz allgemein das Marktvolumen. Der Umsatz, den sie mit dem 3D-Druck erzielen, ist für sie im Moment unerheblich. Für ein Unternehmen mit einem Umsatz von 50 bis 100 Milliarden US-Dollar oder Euro oder Franken würden sogar 250 Millionen in der jeweiligen Währung für den mit AM zusammenhängenden Umsatz weniger als 0,5 Prozent ihres Gesamtumsatzes ausmachen. Für die AM-Branche allerdings wird dies laut Deloitte vor­aussichtlich etwa 15 Prozent des Gesamtumsatzes bis 2020 ausmachen. Der Einstieg dieser Grosskonzerne in den 3D-Druck ist also von grosser strategischer Bedeutung für die AM-Branche. Die Deloitte-Studie kommt zum Schluss, dass gerade jetzt Additive Manufacturing nach Jahrzehnten der Entwicklung eine Periode des anhaltenden Wachstums erreicht, die grösser ist als bei den meisten anderen Fertigungstechnologien. Und das macht AM so attraktiv.

 

deloitte.ch

 

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