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Management

Schritt für Schritt zur Smart Factory

Industrie 4.0 ist gerade in aller Munde. Für viele KMU ist es allerdings schwierig, diesen Trend in die Tat umzusetzen, da es die finanziellen und personellen Möglichkeiten sprengt. Im vorliegenden Artikel zeigen die Autoren der Fernfachhochschule Schweiz (FFHS) auf, wie erste Umsetzungserfolge pragmatisch erzielt werden können.

Die Nutzenversprechen von Industrie 4.0 sind zahlreich: Über Steigerung der Produktivität, Schaffung von Zusatznutzen für Kunden bis hin zur Erschlies­sung neuer Geschäftsfelder ist alles dabei, allerdings fehlen die Anknüpfungspunkte für die Realisierung dieser Nutzenversprechen. Grund dafür ist die Ausrichtung von Investitions- und Entwicklungsaufwendungen an Technologien statt an konkreten Anwendungsfällen.

 

Als Folge herrscht Zurückhaltung und grosse Verunsicherung aufgrund einer heterogenen und unübersichtlichen Angebotslandschaft von Industrie-4.0-Lösungen. Dies bestätigt eine Befragung der Schweizer Maschinen-, Elektro- und Metall-Industrie aus der hervorgeht, dass Industrie 4.0 bei Schweizer KMU noch kein flächendeckendes Thema ist und erst in einzelnen Bereichen zum Tragen kommt. Als Hauptgrund dafür wird der unklare Nutzen genannt. Nötig ist also ein Perspektivenwechsel von «Technologie sucht Anwendung» hin zu «Problem sucht Lösung».

 

Industrie 4.0 ist kein Selbstzweck – sie erfordert eine konsequente Orientierung an Problemstellungen und Zielgrös­sen der Produktion. Der Grüne-Wiese-Ansatz funktioniert nicht, aber auch durch Nachrüsten bestehender Anlagen allein lässt sich eine vollautomatisierte und smarte Produktion nicht umsetzen. Erforderlich ist eine Langfriststrategie mit evolutionärer Entwicklung, die es ermöglicht, neue Technologien und Funktionen in bestehenden Teilbereichen bereits zu nutzen, während neue Anlagen und Fabriken automatisiert, digitalisiert und vernetzt geplant und aufgebaut werden.

 

Ein Stufenmodell hilft bei der schrittweisen Umsetzung einer Smart Factory. Dabei wird der Fokus auf Einzelprojekte in konkreten Anwendungsfällen und nicht auf ganzheitliche Universallösungen gelegt. Wichtig ist, die top-down entwickelte Vision – das Big Picture – nie aus den Augen zu verlieren, während dieses bottom-up, Stufe für Stufe umgesetzt wird.

 

Wie so etwas in der Praxis funktioniert, kann das Beispiel «Intelligentes Presswerkzeug» bei Audi verdeutlichen. Der Automobilhersteller nutzt seit einigen Jahren Sensorik, um den Prozess im Werkzeug sichtbar zu machen, also zu erkennen, wie das Material fliesst und welche Kräfte auf das Blech einwirken. Die Daten zeigen, ob die Prozesse in den schmalen Fenstern bleiben, für die sie ausgelegt sind. Falls nicht, steuert eine Aktorik im Werkzeug die Verteilung der Kräfte selbsttätig um. Damit wird eine Präzision sichergestellt, die im Bereich von Hundertstelmillimetern liegt.

 

Diese Lösung entspricht der Ebene 3 im Stufenmodell. Mit dem intelligenten Werkzeug 2.0 wird nun die Stufe 4 erreicht, nämlich die Regelung am Serienwerkzeug mit Datenübertragung in den Karosseriebau. Die für ein bestimmtes Blechteil charakteristischen Daten werden automatisiert erfasst und weitergeleitet. Auf Basis dieser Informationen werden die Karosseriebauanlagen automatisiert an die Blechteilcharakteristika angepasst. Um das Thema gerade in KMU systematisch anzugehen, hat sich das Vorgehen in zwei Projektphasen bewährt: Die Phase 1 steht unter dem Motto: «Erst lean». Noch komplett unabhängig von Industrie-4.0-Lösungsansätzen und -Technologien werden die Performancehebel in der Produktion identifiziert. Dies können zum einen relevante Problemstellungen entlang der Kernprozesse und zum anderen die für die Strategieumsetzung kritischen Zielgrössen sein. Das Resultat der Phase 1 sind Industrie-4.0-relevante Fragestellungen. In Phase 2 werden, strukturiert gemäss dem Motto «Problem sucht Lösung», smarte Lösungsansätze zur Beantwortung dieser Fragen abgeleitet.

 

In einer Matrix (siehe obenstehende Graphik) werden in der Vertikalen die in Phase 1 identifizierten relevanten Problemstellungen und die strategisch zu verbessernden KPIs aufgelistet. Im Beispiel Audi sind dies die grossen «Pains» der Produktion wie zu geringe Anlagenverfügbarkeit, Störungen aufgrund Bandstillstand oder hoher Prüfaufwand. Horizontal sind generische Problemlösungsstrategien dargestellt – von der vollständigen Elimination des Prozessschritts bis zur Reduktion der Auswirkungen des Problems. In die entsprechenden Kreuzungsfelder werden dann mögliche Industrie-4.0-Lösungstechnologien eingetragen.

 

Im genannten Beispiel bietet die «Virtuelle Aufbausimulation» eine Lösung, um das Problem «Nacharbeit/Ausschuss aufgrund Masshaltigkeit der Bauteile» bereits im Vorfeld zu erkennen und zu beheben. Ist dieser Ansatz interessant, werden in einem nächsten Schritt der Reifegrad der Technologie beurteilt, passende, bereits in der Industrie realisierte Anwendungsfälle als Beispiel gesichtet und – im positiven Fall – ein für das Unternehmen spezifischer Projektantrag formuliert. Die virtuelle Aufbausimulation wird heute unter anderem zur Optimierng der Passgenauigkeit von Scheinwerfern und Karosserien verwendet, womit die Nacharbeit massiv gesenkt werden konnte. Fazit: Nicht das Big Picture, sondern der nächste sinnvolle Schritt ist gerade für KMU die grosse Herausforderung.

 

Harald Brodbeck,

Dozent Fernfachhochschule Schweiz (FFHS) sowie Leiter Industrie Schweiz bei Horváth & Partner AG, Zürich

Sabrina Ernst,

Horváth & Partner AG, Zürich

 

ffhs.ch

 

horvath-partners.com