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«Es werden viele alte Ideen rezykliert»

Das diesjährige Swissmem Symposium beschäftigt sich mit dem Einfluss technolgischer, ökonomischer, aber auch soziologischer Trends auf die Schweizer MEM-Industrie. Als sehr hilfreich für die richtige Einordung dieser Einflussgrössen erweist sich ein Blick auf den historischen Kontext. Die «Technische Rundschau» sprach dazu mit Caspar Hirschi, Professor für Allgemeine Geschichte an der Universität St. Gallen, der seine Sicht der Dinge ebenfalls auf dem Swissmem Symposium vortragen wird.

Herr Hirschi, der Titel Ihres Vortrags zum Swissmem Symposium lautet: «Digitalisierung und Arbeit – Wo geht die Reise hin?». Warum blicken Sie für dieses in die Zukunft gerichtete Thema zurück auf historische Ereignisse?

Alle Prognosen beruhen auf Annahmen über die Vergangenheit, nur machen wir uns meist nicht die Mühe, diese Annahmen einer Prüfung zu unterziehen. Wenn wir etwa behaupten, für die Arbeit der Zukunft werde kritisches und kreatives Denken wichtiger werden, schwebt uns ein Bild der Arbeit von früher vor, in dem Routinetätigkeiten dominieren. Oder wenn wir prognostizieren, der wirtschaftliche Wandel beschleunige sich massiv, unterstellen wir, er sei vor einigen Jahrzehnten gemächlich gewesen. Hier lohnt es sich, genauer nachzufragen: Können wir wirklich behaupten, der Wandel sei nie so schnell gewesen wie heute, wenn wir uns beispielsweise die Explosion der Mobilität, der Metropolen und der Massenproduktion um 1900 vergegenwärtigen? Ich glaube nicht.

 

Wo sehen Sie in der aktuellen Entwicklung hin zur Digitalisierung, Roboterisierung und Automatisierung Parallelen zu vergangenen Entwicklungen? Und wo gibt es deutliche eigenständige Tendenzen?

Es gibt viele Parallelen. Die Automatisierung weckte seit der Industriellen Revolution Existenzängste, und bereits Ende des 19. Jahrhunderts kam die Idee auf, sie führe bald zum Ende aller menschlichen Arbeit. Mit der Einführung von Industrierobotern und Grosscomputern nach dem Zweiten Weltkrieg wurden dann auch Massnahmen diskutiert, um eine automatisierungsbedingte Massenarbeitslosigkeit abzufedern. Dazu gehörten das bedingungslose Grundeinkommen und die Idee einer Weiterbildungsversicherung für Menschen, deren Fähigkeiten nicht mehr gefragt waren. Wohlgemerkt: Diese Diskussion fand in Zeiten des Wirtschaftswunders statt, als Vollbeschäftigung herrschte! Wenig später wurde der Begriff der künstlichen Intelligenz erfunden, um Forschungsgelder in die junge Computerwissenschaft zu spülen, mit grossen Versprechungen, die bis heute auf ihre Erfüllung warten lassen. Wenn wir heute von Zukunftstechnologien sprechen, rezyklieren wir also viele alte Ideen.

 

Und übersehen dabei grundlegend Neues?

Ich befürchte ja. Es gibt extrem einflussreiche Innovationen, denen wir vielleicht noch zu wenig Beachtung schenken. Das betrifft den Industriesektor besonders dort, wo die Technologie eigentlich wenig spektakulär ist. Am wichtigsten ist aus meiner Sicht das Geschäftsmodell der digitalen Plattform, das die Grenze zwischen Industrie- und Dienstleistungssektor auflösen könnte, weil Konzerne gleichzeitig mit verschiedenen Produkten in ganz unterschiedlichen Märkten tätig sein können – immer mit dem Ziel vor Augen, Datenmonopole aufzubauen. Google, Amazon oder Apple könnten so zu neuen Konkurrenten von BMW, ABB, Roche oder UBS werden.

 

Welche historische Zusammenhänge sollte man kennen, um das Motto des diesjährigen Swissmem Symposiums «MEM-Industrie im Wandel» auch richtig einordnen zu können?

Sehr aufschlussreich sind die Diskussionen in den 1970er und -80er Jahren, als die Mikro-elektronik den Industrie- und Dienstleistungssektor veränderte und die Idee der menschenleeren Fabrik neue Nahrung erhielt. VW baute in Wolfsburg die Halle 54 für die Endmontage des Golf, die 1982 unter grossem Medienecho in Betrieb genommen wurde und einen umfassenden Automatisierungsschub bewirken sollte. Die Erwartungen mussten später stark revidiert werden, aber VW lernte viel dabei: Fortan steigerte der Konzern die Produktivität weniger mit der Strategie, Menschen durch Maschinen zu ersetzen, als Menschen und Maschinen effizienter aufeinander abzustimmen.

 

Welche Schlüsse ziehen Sie aus dem Trend hin zur Automatisierung für den Werkplatz Schweiz?

Hier bin ich optimistisch. Wenn ein Land Erfahrung hat mit hoher Automatisierung und ständigem Kostendruck, dann die Schweiz. Ich vermute, die digitale Automatisierung ist vor allem für Billiglohnländer eine Bedrohung, die in der jüngeren Vergangenheit zu industriellen Produktionsstandorten wurden. Es kann durchaus sein, dass eine stärkere Automatisierung wieder mehr Arbeitsplätze in die Schweiz zurückbringt. Als ich kürzlich beim Maschinenbauer Trumpf im Schwäbischen Ditzingen zu Besuch war, hörte ich mit Erstaunen, dass der Produktionsstandort Grüsch im Prättigau weltweit zu den produktivsten gehört. Die Schweiz steht gut da, und es kann noch besser werden.