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«Für zögerlichen Umgang haben wir keine Zeit»

Anlässlich des Swissmem Symposiums am 29. August 2019 betritt mit Prof. Konrad Wegener ein ausgewiesener Produktionsspezialist die Bühne. Sein Vortrag «Industrie nach 4.0» lässt insofern aufhorchen, als er implizieren könnte, wir befänden uns bereits mitten in der digitalen Transformation und die nächste Beschleunigungsstufe steht bevor. Die «Technische Rundschau» wollte es genau wissen und hat um ein Statement gebeten.

Herr Prof. Wegener, ist das Thema Ihres Vortrages «Was kommt nach Industrie 4.0» nicht ein wenig zu weit gegriffen? Stehen wir aktuell nicht erst am zögerlichen Anfang der digitalen Transformation?

«Quidquid agis, prudenter agas et respice finem» sagten schon die Römer: Was immer du tust, das tue mit Bedacht und bedenke das Ende. Es gehört zu den sehr elementaren Eigenschaften des Menschen, sich Gedanken über die Zukunft zu machen, und es ist absolut vernünftig, sich Gedanken darüber zu machen, was die unmittelbaren und weitreichenden Konsequenzen unseres Handelns sind. Jedes CNC-Programm funktioniert mittels «Look ahead» übrigens genauso, dass es soweit wie möglich im Voraus die CNC-Sätze versucht zu interpretieren und zu verarbeiten, weil mit zunehmender Breite des gleitenden Fensters auch das unmittelbar bevorstehende Bahnsegment beeinflusst und verbessert werden kann, was auch für die Steuerung eines Unternehmens gilt. Ich sehe es allerdings nicht so, dass wir erst am zögerlichen Anfang der digitalen Transformation stehen, denn tatsächlich läuft das digitale Zeitalter, wenn Sie es so nennen wollen, schon ein paar Jahrzehnte, und die Tatsache, dass wir allerorten auf Resultate der digitalen Transformation stossen, zeigt, dass die in vollem Gange ist, wir nur zum Teil der Geschwindigkeit mit der hier Veränderungen passieren, nicht ganz folgen können. Industrie 4.0 ist mit Digitalisierung und digitaler Transformation nicht gleichbedeutend ...

 

Wo ist der Unterschied?

Digitale Transformation machen wir seit Industrie 3.0, seit der Einführung der elektronischen Datenverarbeitung. Industrie 4.0 nach der eigentlichen Definition hat eine Leittechnologie, nämlich das Internet. Die Möglichkeiten, auf Daten zugreifen und daraus Informationen gewinnen zu können, haben sich mit der Einführung des Internets, vor allem mit der damit verbundenen Möglichkeit der beispiellosen Integration von Daten und Informationen aus unterschiedlichen Quellen, deutlich verbessert. Digitale Abbilder der Realität, Stichwort: digitaler Zwilling, die im Internet präsent und von überall her abrufbar sind, bedeuten den wesentlich neuen Schritt.

 

«Wenn man alles Neue unter Industrie 4.0 subsummiert, wird es keinen Platz für Industrie 5.0 geben.»

 

Wobei diese Chancen auch Risiken bergen ...

Dass beispielsweise die Druckindustrie im Abstiegskampf ist, dass Geschäfte in den Städten durch den Internethandel bedroht sind, dass wir schneller im Internet nachforschen, denn in einer Enzyklopädie sowie über allerlei Automatismen in der Kommunikation zwischen Industrieunternehmen verfügen, sind unübersehbare Spuren dieser Leittechnologie. Da ist es durchaus angebracht, schon mal nach den Konsequenzen zu schauen. Und für zögerlichen Umgang mit dieser Technologie haben wir eigentlich keine Zeit.

 

Bleiben wir beim Thema: Wie kann Industrie 5.0, also der nächste Schritt, aussehen?

Industrie 5.0 ist ein grosses Wort, und zugegebenermassen habe ich natürlich provoziert, dass Sie mich so fragen, Herr Pittrich. Es ist schwierig, diese Frage zu beantworten ohne in Science-Fiction abzugleiten. Wenn man natürlich alles Neue unter Industrie 4.0 subsummiert, wird es keinen Platz für Industrie 5.0 geben. Ich möchte aber auf die Definition über Leittechnologien zurückkommen.

 

Ja, bitte ...

Das Technologieportfolio, das in den Visionen verschiedenster Auguren immer wieder aufkreuzt, enthält Dinge, die unsere technischen Einrichtungen biologischen Systemen ähnlich machen. Wir haben es also mit einer Biologisierung der Fertigungstechnik zu tun. In diesem Zusammenhang wird viel über künstliche Intelligenz geredet, wobei die gesamte Intelligenz sich in programmierten Algorithmen wie neuronalen Netzen, Bayesschen Netzen oder Markov-Ketten ergeht. Intelligenz ist aber eigentlich etwas anderes, und die Zukunft liegt vielleicht dann in der Biointelligenz.

 

Wie könnte diese aussehen?

Maschinen, die lernen und lehren können und zugleich in der Lage sind, zu unterscheiden, ob sie ihrem Bediener helfen oder eher sich von ihm etwas beibringen lassen sollen. Auch maschinelles Lernen wird zukünftig eher so ablaufen wie biologische Systeme lernen, die nämlich mit unvollständigen, unsicheren und unstrukturierten Daten etwas anfangen können. Zur Biologisierung gehören auch Ansätze zur Selbstdiagnose und Selbstheilung oder Maschinen, die sich ihrer Umwelt und Aufgabe anpassen, sowie eine möglicherweise vollkommen andere Art der Kommunikation zwischen Maschinen und Menschen. Es werden sich die Produktionsverfahren ändern und vermehrt die Hilfe lebender Materialien wie Mikroorganismen und Zellen in Anspruch nehmen. Zusätzlich wird auch das Produktspek­trum ein anderes werden, weil vermehrt Reparaturen an echten biologischen Systemen ausgeführt werden müssen, was bedeutet, dass die Ersatzteile verfügbar sein müssen. Und vielleicht gehen wir in Richtung der aus der Science-Fiction bekannten Cyborgs, Kombinationen aus Mensch und Maschine. Sicher nicht ganz so krass, aber dass künstliche Organe gefertigt und eingesetzt werden müssen, ist absehbar. Ansätze zur Verstärkung und Erweiterung menschlicher Sinne und Aktionen sind bereits vorhanden.

 

Bleiben wir im Hier und Jetzt: Welche Herausforderungen sehen Sie auf die produzierende Industrie zukommen, um überhaupt die Transformation in diese Richtung bewältigen zu können?

Es geht darum, den Nutzen einer erneuten grundlegenden Veränderung, deren Chancen wie auch Notwendigkeiten frühzeitig zu erkennen und den Weg mutig zu beschreiten. Für jede Veränderung ist die wichtigste Herausforderung, die Mitarbeiter und das Führungspersonal einzubeziehen und mitzunehmen, denn die Arbeitswelt wird sich sicherlich verändern. Dabei denke ich vor allem an eine grundlegend andere Art der Zusammenarbeit zwischen Mensch und Maschine. Auch Industrie 4.0 setzt schon einen gesellschaftlichen Wandel in Gang, der mit weiteren Technologiesprüngen fortgeführt werden wird. Damit gewinnt die schon zu Industrie 4.0 einsetzende Ethikdiskussion erheblich an Bedeutung. Die spezifische Herausforderung zukünftiger Entwicklungen wird sein, in dieser Diskussion und in der neuen Vielschichtigkeit die richtigen Entscheidungen für das Unternehmen und die Gesellschaft zu treffen. Ich möchte dabei noch einen ganz wesentlichen Aspekt erwähnen: Nämlich, dass sowohl im Unternehmen als auch in der Gesellschaft die Voraussetzungen für einen abermaligen Wandel frühzeitig geschaffen werden müssen. Diese anzulegen, braucht Jahre. Ich sehe die Unternehmensentwicklung als Stufenmodell, in dem Technologielevel aufeinander aufbauen, und viele Unternehmen scheitern, weil sie Jahrzehnte früher die Weichen nicht oder nicht richtig gestellt haben.

 

«Ich sorge mich um eine Wirtschaftspolitik, die noch am grenzenlosen Marktliberalismus festhält, obwohl es die mächtigsten Marktteilnehmer längst nicht mehr tun.»

 

Wie können sich Unternehmen konkret auf diese Umwälzungen einstellen?

Meiner Meinung nach braucht es bei der aktuellen Veränderungsgeschwindigkeit einen Masterplan, der über kurzfristiges Kosten–Nutzen-Denken hinausgeht. Anhand dieses Plans muss mit Hochdruck die Schaffung der erforderlichen Voraussetzungen angegangen werden. Der zweite wesentliche Aspekt ist die Notwendigkeit zu einer neuen Offenheit, zu einer Kultur der strategischen Allianzen. Oft höre ich, dass Industrie 4.0 nicht für KMU funktioniert – und das ist grundlegend falsch. Die Umwelt verändert sich in Richtung Digitalisierung und internetbasierte Geschäftsmodelle. Kleine Unternehmen können diesen Weg nur mit Hilfe von Partnerschaften lösen. Da dieser Bedarf existiert, wird es Angebote hierzu geben, die auch bezahlbar sind. Aber es reicht nicht aus, einen Strohhalm zu haben, man muss sich auch daran klammern. Internetbasierte Geschäftsmodelle funktionieren nur mit einer gleichmässigen Verteilung von Aufwand und Nutzen von allen beteiligten Partnern. Dies zuzuordnen, macht zumeist die Schwierigkeit aus.

 

Wird es für die produzierenden Unternehmen überhaupt eine Zukunft ohne Digitalisierung geben?

Nein, definitiv nicht. An einer Digitalisierung führt kein Weg vorbei. Ich kenne kaum ein produzierendes Unternehmen, welches heute ohne Digitalisierung arbeitet. CNC-Technologie, BDE, ERP-Systeme sind heute überall im Einsatz; das ist bereits Digitalisierung. Die Frage ist aber nicht, ob überhaupt, sondern eher in welchem Umfang internetbasierte Technologien für die Unternehmen notwendig sind – und da möchte ich mich sehr vorsichtig äussern: Der Umfang wird ganz sicher steigen.

 

Für agil agierende Unternehmen könnte diese Umwälzung auch dazu führen, völlig neue Geschäftsmodelle zu entwickeln. Wie konkret ist diese Chance?

Jedes Unternehmen täte gut daran, eine Industrie-4.0-Roadmap zu haben, die wenigstens in Ansätzen auch abdeckt, was danach kommt. Dort steht am Anfang eine Vorstellung über ein Geschäftsmodell für die Zukunft. Sicher ist, dass sowohl die Kundschaft als auch die Lieferanten immer mehr Industrie 4.0 anwenden und auch erwarten werden. Aber das ist nur reaktiv. Die Unternehmen müssen Geschäftsideen, die nur mit den neuen Technologien möglich sind, entwickeln und schnell besetzen. Dabei sind Geschäftsideen nicht nur externe Modelle, sondern auch interne Organisationsmöglichkeiten. Die Basis dafür ist, Datenkonnektivität zu schaffen, Maschinen beispielsweise über OPC UA oder Umati anzubinden an die Unternehmenssoftware; darin sind sich alle Experten inzwischen einig. Weiteres Vorgehen ist unternehmensspezifisch.  

 

Wie weit sehen Sie die Unternehmen der Schweizer MEM-Branche auf diesem Weg?

Alles was ich hierzu sagen kann, sind unzulässige Verallgemeinerungen. Die Bandbreite ist riesig, bereits unter unseren Kooperationspartnern. Es herrscht allgemein eine Kultur der Offenheit, über Technologien und deren Folgen – positiv wie negativ – zu diskutieren. Was ich vielfach vermisse, ist eine längerfristig angelegte Beschäftigung mit den Möglichkeiten neuer Technologien, unabhängig ob Industrie 4.0 oder irgendetwas anderes. Bei grundlegenden Veränderungen versagt die einseitige Priorisierung auf low hanging fruits. Da sollte man sich auch mal überlegen, wie man den Baum vollständig oder aber wenigstens die nächsthöheren Äste abernten kann. Falsch ist auch das Verharren in Orientierungslosigkeit. Wenn man losrennt und in die falsche Richtung rennt, hat man wenigstens das Rennen gelernt. Und dabei sorge ich mich primär darum, dass internetbasierte lukrative Geschäftsmodelle nicht schnell genug erschlossen werden, so dass sich Datengiganten dort hineindrängen. Und im Übrigen sorge ich mich noch viel mehr um eine Wirtschaftspolitik, die immer noch am grenzenlosen Marktliberalismus festhält, obwohl die mächtigsten Marktteilnehmer sich längst nicht mehr daran halten. Aber das steht auf einem anderen Blatt. (pi)

 

Institut für Werkzeugmaschinen, ETH Zürich

8092 Zürich, Tel. 044 632 63 90

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