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Management

Swissmem Symposium: Stürmische Zeiten voraus

Das diesjährige Swissmem Symposium stand unter dem Motto «MEM-Industrie im Wandel» und wollte aufzeigen, welche technologischen, ökonomischen und soziologischen Trends aktuell bewegen und wie sie sich in welcher Form auf die Schweizer MEM-Branche auswirken können. Ein Fazit: Es stehen stürmische Zeiten bevor.

Der Zürisee zeigte sich von seiner bedrohlichen Seite. Grauschwarz schlug das wellenbewegte Wasser an die Kaimauer des Lake Side Zürich. Dunkle Wolken zogen über den Himmel. Ein Menetekel auf das, was sich im Innern des Tagungszentrums abspielen sollte? Nein, kein blutrünstiges Gemetzel erwartete die gut 120 Besucher des diesjährigen Swissmem Symposiums (29. August). Aber der Auftakt der Veranstaltung war für nicht wenige Zuhörer ähnlich verstörend.

 

Passend zum Wetter eröffnete Stefan Brupbacher, seines Zeichens Direktor des gastgebenden Branchenverbandes Swissmem, das Symposium mit einer «Sturmwarnung an verschiedenen Fronten». Handelskonflikte, Währungsdifferenzen, Automobilkrise, Brexit, schwächelnder Euro, Rahmenabkommen – so benennt er aus globaler bis nationaler Sicht die Sturmtiefs, die auf die Schweizer MEM-Industrie zubrausen. Mit welcher Wucht sie bereits im Anmarsch sind, zeigen die aktuellen Zahlen des Verbandes: Die Auftragseingänge der Schweizer MEM-Branche nahmen im 1. Halbjahr 2019 im Vergleich zum Vorjahreszeitraum um 12,5 Prozent ab; wobei das 2. Quartal 2019 mit 19,5 Prozent Rückgang den Löwenanteil ausmachte.

 

Besorgniserregend sind die Zahlen auch deshalb, weil anstehende Herausforderungen wie ausstehende Ratifizierung der Bilateralen oder die digitale Transformation die Unternehmen weiter belasten: «Bereits die Digitalisierung absorbiert die MEM-Firmen ressourcenmässig voll. Der sich verstärkende Fachkräftemangel schränkt die Möglichkeiten der Unternehmen weiter ein», warnte Brupbacher. Deshalb plädierte er vor allem an die Politik, die Rahmenbedingung für die Branche «möglichst gut zu gestalten». Also: Das Richtige zu tun, und alles andere sein zu lassen.

 

Daniel Kalt, Chefökonom und Regional Chief Investment Officer der UBS, konnte im zweiten Vortrag die dräuenden Unwetterwarnungen nicht abmildern. Eher im Gegenteil, empfahl er doch bereits in der Eingangssequenz dafür, die Gummistiefel anzulassen, den Schal enger zu schlingen und die Mütze über beide Ohren zu ziehen: «Die Weltwirtschaft befindet sich derzeit in einer kritischen Phase. Nach über zehn Jahren Aufschwung sorgt der eskalierende Handelsstreit zwischen den USA und China weltweit für erhöhte Verunsicherung und hat vor allem im verarbeitenden Gewerbe bereits spürbar Bremsspuren hinterlassen.»

 

Aus Banken-Sicht sieht er für die weitere wirtschaftliche Entwicklung in der Schweiz folgende Risiken: Der eskalierende Handelsstreit könnte zu spürbaren Bremsspuren führen; im Worst-Case droht sogar eine globale Rezession. Die anhaltenden Niedrigzinsen sorgen für Kollateralschäden, beispielsweise in der Rentenversicherung (2. Säule/Kapitaldeckungsverfahren) und auf dem Immobiliensektor, was sich wiederum negativ auf den privaten Konsum auswirken könnte. 

 

Weg von der eher globalen finanzwirtschaftlichen Betrachtung und mitten ins Herz der MEM-Branche zielte der gemeinsame Vortrag von Josua Burkart und Peter Meier von der hpo forecasting ag. Peter Meier, Doyen der Konjunkturprognose im Schweizer MEM-Umfeld, und sein Nachfolger Burkart, gingen dabei nicht eben schonend mit dem Auditorium um. Ihre im Titel des Vortrags formulierte rhetorische Frage: «Was erwartet die MEM-Industrie 2020?», beantworteten sie recht eindeutig: «Die Wahrscheinlichkeit für das Eintreten einer Weltwirtschaftskrise ist so hoch, wie seit 2008 nicht mehr.»

 

Warum es zur Krise kommen könnte, belegen die beiden Prognostiker anschaulich und eindrücklich. Ein wichtiger Grund: Neben dem Erkalten der Weltkonjunktur zeigt aktuell auch der private Konsum deutliche Bremsspuren. Diese Koinzidenz hat aus ihrer Sicht gravierende Folgen: «Damit tritt die Wirtschaft in eine instabile Phase ein. Unter diesen Umständen genügt ein für sich gesehen unbedeutender Anlass, um eine Abwärtsspirale in Gang zu setzen.» 

 

Beide sind sich sicher, dass ein Rückgang kommen wird. Ihr Szenario sieht einen tiefen und langanhaltenden Abschwung voraus. So erwarten sie für 2020 einen Rückgang des Auftragseingangs in der Schweizer MEM-Industrie von 10 bis 15 Prozent gegenüber 2018. Wobei es die Textilmaschinenproduktion noch härter treffen könnte, mit einem prognostizierten Rückgang von 30 bis 35 Prozent . Auch die Werkzeugmaschinenbranche sollte mit 20 bis 25 Prozent weniger Aufträgen im Vergleich zu 2018 rechnen. Glimpflich dagegen könnte die Präzisionswerkzeugbranche wegkommen, die nach dem hpo-Szenario nur einen Rückgang im einstelligen Bereich zu verzeichnen hätte.

 

Ein wenig Balsam auf die geschundenen Seelen der Zuhörer träufelte Roger Wehrli mit dem anschliessenden Vortrag «Wandel in der Schweizer Wirtschaft – Bedrohung oder Segen?». Zwar skizzierte auch er Bedrohungsszenarien, die vor allem die Auswirkungen auf den Schweizer Arbeitsmarkt thematisierten. Er gab aber auch eine gewisse Entwarnung: «Bisher hat die Schweiz den stetigen Wandel aus gesamtwirtschaftlicher Perspektive erfolgreich gemeistert. Die Löhne sind gestiegen, die Arbeitslosigkeit ist tief, die Arbeitnehmerrechte wurden gestärkt und die Leute haben mehr Freizeit. Auch die Anzahl Arbeitsplätze nimmt stetig zu, seit 1993 beispielsweise um 22 Prozent.»

 

Trotzdem kam er nicht umhin, die Schweizer Wirtschaft aktuell in einem deutlichen Spannungsfeld zu verorten. Für ihn leitete sich daraus die grosse Frage ab, ob und wie die Schweiz den daraus resultierenden Wandel weiterhin erfolgreich meistern kann. Indikatoren wie starke Technologie-orientierung, ein relativ hoher Automatisierungsgrad in der Industrie und das sehr gute Aus- und Weiterbildungssystem sowie die ausgezeichnet geförderte F&E-Landschaft lassen immerhin positiv in die Zukunft blicken.

 

Während der Vormittag also schwer verdauliche Kost servierte, sollte der Nachmittag Erleichterung und Auflösung bieten. Gefragt waren handfeste Praxisbeispiele, die demonstrieren, wie die Schweizer MEM-Branche mit Herausfoderungen, beispielsweise der digitalen Transformation, umgehen. Und hier brachten die Referenten Riet Cadonau, dormakaba Gruppe, und Urs Wullschleger, Wilhelm Schmidlin AG, das erhoffte Licht ins Dunkle.

 

Riet Cadonau, CEO und Chairman von dormakaba, konzentrierte sich in seinem Vortrag auf die Veränderungen, die dormakaba einerseits durch die Fusion der deutschen Dorma und der Schweizer Kaba zu dormakaba und damit zu einem global agierenden Unternehmen mit 16 000 Mitarbeitern und 3 Mrd. CHF Umsatz katapultiert haben. Andererseits beschrieb er die Transformation der Schliess - und Zutrittsbranche vom mechanisch gefertigten Schlüssel über elektronische Zuhaltesysteme hin zum neuen Trend der cloudbasierten, smarten Zugangslösungen für Wohnungen, Geschäftsräume und Hotels: «Gerade die Digitalisierung hat das Potenzial, viele Industrien stark zu beeinflussen und erfordert neue Denkansätze.»

 

Sein Unternehmen hat es geschafft, diesen Wandel mitzugehen und offeriert unter der Marke «dormakaba digital» Lösungen auf Basis von cloudbasierten Schliesssystemen zusammen mit Partnern wie SAP, DHL, Marriott und any2any. Wobei er ganz klar das Management in der Pflicht sieht, Chancen zu erkennen und umzusetzen: «Es ist die Aufgabe des Top-Managements, die Veränderungen frühzeitig zu erkennen und gemeinsam mit Mitarbeitenden, Partnern und Kunden die sich bietenden Chancen mit mutigen Schritten anzugehen.»

 

«Die Mitarbeiter mitnehmen», lautet auch das Credo von Urs Wullschleger, Inhaber der Wilhelm Schmidlin AG. Sein Unternehmen fertig unter anderem Badewannen nach Mass und stand vor rund zehn Jahren vor der Herausforderung, gezielter auf die individuellen Forderungen der Kunden reagieren zu müssen, um das Überleben der Firma zu sichern. In einem ersten Schritt wurde ab 2008 die Fertigung automatisiert bis hinab zu Losgrösse eins, inklusive Vernetzung der Prozesse; also das praktiziert, was heute unter dem Schlagwort «Industrie 4.0» in aller Munde ist.

 

Damit aber nicht genug. Um wirklich schnell auf Kundenwünsche reagieren zu können, etablierte das Unternehmen ein eigenes Lean-Konzept: «SchmidLean». Beinahe revolutionär ist der darin enthaltene Anspruch, jeden zweiten Mittwoch die Wannenproduktion ruhen und alle Mitarbeiter in kleinen Teams an Verbesserungen arbeiten zu lassen. «Dabei geht es nicht um das Erarbeiten von Konzepten, sondern um die konkrete Umsetzung von Optimierungen mit dem Ziel, am Donnerstagmorgen einen realisierten Nutzen aus den Aktivitäten zu haben», erläutert Urs Wullschleger den Hintergrund. «Es steht immer die Reduktion der Durchlaufzeit im Zentrum.» Im Gegensatz zu konventionellen Optimierungsansätzen verfolgt Schmidlin das Ziel, schneller und flexibler zu werden und nicht eine reine Kostensenkung anzustreben. «Die Reduktion der Kosten», sagt Wullschleger, «soll höchstens als Nebeneffekt entstehen.»

 

So wurden in den letzten acht Jahren 200 Verbesserungstage durchgeführt. In Summe also rund 100 000 Stunden in Lean-Massnahmen und Kaizen investiert. Das Ergebnis: Schmidlin bietet heute viele Produkte auf Mass gefertigt mit garantierter Lieferfrist und fixem Preis. «Das wäre vor acht Jahren noch undenkbar gewesen», weiss Urs Wullschleger. Sein Unternehmen hat auch mit dem SchmidLean-Konzept die Nische gefunden, die hilft, die Produktion in der Schweiz zu halten.

 

Die beiden letzten Vorträge des Tages waren der Wissenschaft vorbehalten. So betrachtete Caspar Hirschi von der Universität St. Gallen die heutigen Digitalisierungstendenzen aus Sicht des Historikers. Seine Schlagworte dazu lauteten «Neo-Taylorismus» und «Plattformkapitalismus». Wobei nach seinen Worten das Geschäftsmodell der digitalen Plattform die herkömmlichen Regeln des wirtschaftlichen Wettbewerbs aushebelt und die Grenze zwischen Dienstleistungs- und Industriesektor verwischt. Eine Folge: «Wenn Firmen Industrie- und Dienstleistungsunternehmen in einem sind, wird es auch leichter, Arbeitsverfahren und Innovationsstrategien von einem Sektor in den anderen zu transferieren. So finden in Büros derzeit Strategien der Produktivitätssteigerung Anwendung, die einst für die Industrieproduktion entwickelt worden sind.»

 

Hier findet der Begriff des Neo-Taylorismus seine Anwendung: «Einst für die Fliessbandproduktion konzipiert, werden heute Call-Center und Zeitungsredaktionen tayloristisch auf höhere Produktivität ausgerichtet.» Hirschi warnt davor, in alte Strickmuster zurückzufallen: «Nähern sich die beiden Sektoren Produktion und Dienstleistung weiter an, müssen führende Industriemanager eine Vorreiterrolle übernehmen, um alte Irrwege wie den digitalen Neo-Taylorismus zu verhindern.»

 

Der spannenden Frage «Was kommt nach Industrie 4.0» nähert sich Konrad Wegener vom iwf der ETH Zürich gewohnt eloquent an. Wobei er nicht dem Begriff «Industrie 5.0» das Wort reden möchte, sondern explizit darauf abhebt, welche Möglichkeiten sich durch den Entwicklungsschub via Digitalisierung und Datenvernetzung ergeben können. Ein Ansatz könnte die Biologisierung sein, also die Fähigkeiten von biologischen Systemen mit denen von technologischen System zu kombinieren. In der Sciene-Fiction oft als «Cyborgs» tituliert, könnten diese biologisch-technischen Zwitter in Zukunft helfen, den notwenigen Wissenstransfer zu beschleunigen. «Die Vision geht in Richtung sachlich unbegrenzter maschineller Autonomie und demnach unbeschränkter Beherrschung der Komplexität», so Professor Wegener. «Dies erzwingt die Beschäftigung mit maschineller Lernfähigkeit und der unbegrenzten Weitergabe von Erfahrungen über Maschinenhirne.» Parallel dazu würde die «Solarisierung der Energieversorgung» dazu führen, dass sich die Menschheit im Rahmen der dann möglichen Ressourceneffizienz ganz auf die vorhandenen materiellen Ressourcen konzentrieren könnte. Eine weitere Schlussfolgerung des umtriebigen Professors lautete: «Die Werkstoffe des Maschinenbaus werden mehr und mehr Keramiken sein.»

 

Als sich die Teilnehmer nach vollbrachtem Tagwerk aus dem Vortragssaal bewegten, schien mittlerweile wieder die Sonne und verwöhnte mit angenehmer Abendstimmung. Ein Fazit des Swissmem Symposiums lautet also: Auf Regen folgt auch wieder Sonnenschein.

 

Übrigens: Das nächste Swissmem Symposium findet am 27. August 2020 statt.

 

(Unter swissmem-symposium.ch können weitere Bilder und Eindrücke vom Symposium abgerufen werden.)