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Technische Rundschau

Mit Künstlicher Intelligenz gegen den Virus

Bild: ZHAW

Können Methoden der Künstlichen Intelligenz in der aktuellen Pandemie hilfreich eingesetzt werden? Die ZHAW-Forscher Ricardo Chavarriaga und Kurt Stockinger vom Institut für angewandte Informationstechnologie haben Antworten.

Wie kann Künstliche Intelligenz die Experten für Epidemiologie oder Virologie unterstützen?

Ricardo Chavarriaga: Künstliche Intelligenz umfasst mehrere Technologien, um Daten zu analysieren, Sequenzen oder Muster zu identifizieren und Informationen zu extrahieren, die hilfreich sein könnten, um die Natur besser zu verstehen und die Ausbreitung des Virus zu kontrollieren. Ein Beispiel für diese Ansätze ist die Analyse des aktuellen Coronavirus. Moderne Technologie ermöglichte die schnelle Sequenzierung seines Genoms. KI-Techniken wurden verwendet, um die Proteinfaltung vorherzusagen und die Virusstruktur zu analysieren. Diese Informationen helfen dabei, die Übertragung des Virus innerhalb und zwischen Arten zu analysieren und unterstützen die Entwicklung von Testmethoden sowie das Screening potenzieller Behandlungen oder Impfstoffe.

Kurt Stockinger: In unserem EU-Projekt INODE (Intelligent Open Data Exploration) entwickeln wir einen Ansatz, der auch in der aktuellen Pandemie verwendet werden kann. Er besteht darin, aus einer Vielzahl von Informationsquellen einen sogenannten Knowledge Graph zu erstellen und das Wissen in natürlicher Sprache abzufragen – ähnlich wie wir Webdaten mit Suchmaschinen abfragen. Ein typisches Szenario könnte sein: ‚Zeigen Sie mir alle Patienten in der Gegend von Lugano, die Fieber über 39 Grad hatten und älter als 65 Jahre sind.‘ Der Aufbau eines solchen Systems erfordert die Verwendung eines breiten Spektrums datenwissenschaftlicher Methoden wie Datenbanken, Big Data-Technologie, Wissensgraphen und maschinelles Lernen. Sie helfen Forschern, komplexe medizinische Datensätze auf intuitive Weise zu untersuchen. Tatsächlich wurden wir von der Europäischen Kommission gebeten, einen Beitrag zur Arbeitsgruppe RDA-COVID-19 der Research Data Alliance zu leisten. Ziel dieser Arbeitsgruppe ist es, Richtlinien für den Datenaustausch in diversen Disziplinen festzulegen. Die Idee ist, Datensätze aus verschiedenen klinischen Studien oder biologischen Datenbanken zu integrieren, um medizinische Daten zu analysieren.

Gibt es weitere Beispiele, wie KI in der aktuellen Pandemie eingesetzt werden kann?

Ricardo Chavarriaga: Die Ausbruchsentwicklung zu verfolgen ist wichtig, um die Bereitschaft der Bevölkerung und der Gesundheitssysteme zu erhöhen – noch bevor positive Fälle auftreten und zunehmen. Verschiedene Quellen – darunter Nachrichten, soziale Medien oder der Verkauf von Flugtickets – wurden mithilfe von KI analysiert, um schnell Informationen zu extrahieren. Mit diesen Daten kann die Ausbreitung der Epidemie auf globaler Ebene in Echtzeit überwacht werden. In diesem Zusammenhang wurden zudem Standortinformationen von Mobiltelefonen in mehreren Ländern verwendet, auch in der Schweiz. Diese Informationen können zwar hilfreich sein, um Kontakte zwischen Personen zu verfolgen oder um die Einhaltung von Empfehlungen im öffentlichen Raum zu überwachen. Diese Anwendungen lösen aber auch Bedenken in Sachen Datenschutz aus.

Welche Anwendungen konnten bereits Erfolge erzielen?

Kurt Stockinger: Einige Ansätze werden bereits teilweise für krebsrelevante Studien verwendet. Ein typisches Szenario ist, dass Forscher untersuchen möchten, ob spezifische Tumormarker an bestimmten Körperstellen vermehrt vorkommen. Dazu werden Datensätze aus verschiedenen Bioinformatik-Datenbanken integriert, mit zusätzlichen klinischen Daten angereichert und von medizinischen Forschern analysiert. Die Verwendung dieser Methoden für COVID-19-bezogene Studien ist grundsätzlich möglich. Man sollte sich jedoch darüber im Klaren sein, dass es eine enorme Herausforderung ist, neue biologische Datenbanken zu verstehen und zu integrieren. Natürlich können wir Techniken des maschinellen Lernens verwenden, um diesen Datenintegrations- oder Analyseprozess zu automatisieren. Dies erfordert jedoch Zeit und die Algorithmen müssen mit grossen Mengen von Daten trainiert werden.Ricardo Chavarriaga: Wie so oft bei neuen Technologien ist die Übersetzung von Prototypen in robuste, einsetzbare Systeme mit zahlreichen Herausforderungen verbunden. Ihre Gültigkeit und Wirksamkeit kann nur langfristig richtig beurteilt werden. Neben der Epidemiologie oder Virologie gibt es ausserdem noch andere Bereiche, in denen KI und neue Technologien einen Beitrag leisten können. Optimierungs- und grafische Methoden können verwendet werden, um die Ressourcenverteilung und Lieferungen angemessen zu planen. Computer Vision und Bilderkennung werden verwendet, um medizinische Bilder als Unterstützung bei Diagnose und Behandlung zu analysieren. Und die Verarbeitung natürlicher Sprache hilft bei der Analyse vorhandener wissenschaftlicher Literatur, um Wissenschaftler beim Verständnis der Krankheit zu unterstützen.

Könnte eine künftige Pandemie mit Hilfe von KI vorhergesagt und möglicherweise verhindert werden?

Kurt Stockinger: In Bezug auf die Vorhersage solcher bisher unbekannter Szenarien klingt es unwahrscheinlich, dass KI helfen könnte. Die Integration und Analyse grosser Datenmengen kann jedoch in Zukunft dazu beitragen, eine weite Verbreitung solcher Viren zu vermeiden. Wir können mit den Daten wichtige Trends aufzeigen, die Auswirkungen verschiedener sozialer Distanzierungsmethoden untersuchen und schliesslich statistisch belegen, was am besten funktioniert. KI kann Regierungen helfen, früh genug die richtigen Entscheidungen zu treffen, um die Ausbreitung zu einer Pandemie zu vermeiden. Schliesslich braucht man aber neben künstlicher Intelligenz auch menschliche Intelligenz, um die wissenschaftlichen Fakten zu akzeptieren und die richtigen Entscheidungen zu treffen – sowohl auf individueller als auch auf Regierungsebene.

Ricardo Chavarriaga: Es gibt Präzedenzfälle für Bemühungen dieser Art. Vor etwa einem Jahrzehnt wurde ein System namens Google Flu Trends eingesetzt, um die Entwicklung von Grippeausbrüchen anhand von Suchanfragen zu verfolgen und vorherzusagen. Trotz eines vielversprechenden Starts erreichte das System jedoch nicht die erwartete Leistung und wurde einige Jahre später eingestellt. Einer der Gründe für das Versagen dieses Systems ist, dass Suchvorgänge zu Gesundheitsthemen nicht unbedingt aufgrund akuter Krankheit erfolgen. Dies zeigt, dass es theoretisch machbar ist, diese Art von Modellen zu entwickeln. In der Praxis ist es aber eine grosse Herausforderung, diejenigen Phänomene, die von Interesse sind, genau erfassen und auf neue Bedingungen verallgemeinern zu können. Darüber hinaus ist zu berücksichtigen, dass Pandemien von den Merkmalen einer Krankheit sowie der Wirksamkeit der Eindämmungsmassnahmen abhängen. Präventionsbemühungen stützen sich nicht allein auf Technologie sondern darauf, wie öffentliche Dienste und die Gesellschaft auf Frühwarnungen reagieren. Das daraus resultierende Paradoxon ist, dass niemand vollständig validieren kann, ob die anfänglichen Vorhersagen korrekt waren, wenn die ergriffenen Massnahmen – basierend auf Vorhersagemodellen – eine Pandemie verhindern.

Zusammenfassend sollte nicht erwartet werden, dass die KI alle mit einer solchen Situation verbundenen Unsicherheiten beseitigt. Sie ist vielmehr ein Instrument, das Wissenschaftler, Gesundheitsexperten und politische Entscheidungsträger dabei unterstützt, potenzielle Szenarien zu identifizieren, und ihnen bei der Entscheidungsfindung hilft.

KI-Community gegen COVID-19

Ricardo Chavarriaga ist Leiter des kürzlich eröffneten Schweizer Büros von CLAIRE – Confederation of Laboratories for Artificial Intelligence in Europe. Auf folgender Website sind verschiedene Initiativen dokumentiert, in denen die KI-Community zu den weltweiten Bemühungen gegen COVID19 beiträgt: http://covid19.claire-ai.org

Das Interview führte  Matthias Kleefoot  von der ZHAW School of Engineering in Winterthur.

zhaw.ch