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Technische Rundschau

Schweizer Medtech ist «Drittstaat»

Der erste Dominostein ist gefallen: Wegen des fehlenden Institutionellen Abkommens (InstA) hat die Europäische Union (EU) das Abkommen über die gegenseitige Anerkennung von Konformitätsbewertungen (Mutual Recognition Agreement, MRA) nicht aktualisiert. Mit dem heutigen Geltungsbeginn der neuen EU-Medizinprodukteverordnung (Medical Device Regulation, MDR) verliert die Schweizer Medizintechnikindustrie deshalb ihren bisher barrierefreien Zugang zum EU-Binnenmarkt.

Heute ist eingetroffen, was sich bereits vor zwei Jahren als mögliches Szenario abgezeichnet hatte: Die Rückstufung der Schweizer Medizintechnikbranche auf «Drittstaat». Schweizer Unternehmen müssen ab sofort erhöhte Anforderungen für den Export ihrer Medizinprodukte in die EU erfüllen. Die Schweizer Medtech-Branche hat sich mit grossem Einsatz so gut wie möglich auf diesen Tag vorbereitet. 

Peter Biedermann, Geschäftsleiter von Swiss Medtech, dazu: «Es war früh klar, dass die Aktualisierung des MRA eine reine Frage des politischen Willens beider Verhandlungspartner ist. Unsere Empfehlung an die Schweizer Medtech-Branche lautete deshalb schon vor zwei Jahren: Wer den Warenexport in die EU lückenlos und unabhängig von der politischen Situation EU-Schweiz sicherstellen will, muss sich auf die Eventualität Drittstaat vorbereiten.» Diese Nachricht traf die Medtech-Branche zu einem Zeitpunkt grösster Herausforderungen. Allein die Implementierung der MDR ist und bleibt ein grosser Kraftakt. Hinzu kommt die Corona-Pandemie, bei deren Bewältigung die Medizintechnik eine zentrale Rolle im Gesundheitssystem spielt.

«Die letzten zwei Jahre haben Swiss Medtech und seinen Mitgliedern enorm viel abverlangt. Die Branche hat sich mit beispiellosem Einsatz so gut wie möglich auf die erhöhten Anforderungen für den Warenexport in die EU vorbereitet», so Biedermann. Dazu gehören im Wesentlichen die Benennung eines Bevollmächtigen im EU-Raum, der stellvertretend Herstelleraufgaben inklusive Produktehaftung übernimmt, sowie die entsprechende Neubeschriftung der Produkte (Labeling). 

Dies nicht ohne Preis: Der Administrationsaufwand zur Erfüllung der Drittstaat-Anforderungen kostet die Schweizer Medizintechnikindustrie initial schätzungsweise 114 Millionen Franken und jährlich wiederkehrend 75 Millionen Franken. Diese Kosten entsprechen zwei Prozent beziehungsweise 1,4 Prozent des Exportvolumens (5,2 Milliarden Franken) von der Schweiz in die EU. «Über die gesamte Schweizer Medtech-Branche betrachtet, sind die reinen Administrationskosten verkraftbar. Uns sorgen vielmehr der Verlust der Standort-Attraktivität und die damit verbundenen, negativen Konsequenzen. Für aussereuropäische Firmen etwa, die ihren Hauptsitz in Europa stationieren wollen, verliert die Schweiz gegenüber EU-Ländern aufgrund der Drittstaat-Bürokratie massiv an Investitions-Attraktivität. Sorgen bereitet uns auch, dass Schweizer Startups ihren Sitz anstatt in der Schweiz vermehrt in der EU ansiedeln könnten. Wer also lediglich feststellt, die Administrationskosten seien verkraftbar, verkennt völlig, wie hart der internationale Konkurrenzkampf ist», kommentiert Beat Vonlanthen, Präsident von Swiss Medtech, die Zahlen. 

An der aktuellen Situation gibt es nichts zu beschönigen: 2002 konnten dank den Bilateralen I technische Handelshemmnisse zwischen der Schweiz und der EU abgebaut und der gegenseitige Marktzugang gesichert werden. Heute hat die Schweiz diese Errungenschaft für einen volkswirtschaftlich bedeutenden Industriezweig mit 63’000 Beschäftigten und 1400 Unternehmen verloren. Für Vonlanthen ist deshalb klar: «Der Verband wird sich über den heutigen Tag hinaus mit ungebrochenem Engagement dafür einsetzen, dass das MRA möglichst rasch aktualisiert und die Beziehungen der Schweiz mit der EU auf eine solide und dauerhafte Grundlage gestellt werden.» 

Swiss Medtech nimmt enttäuscht zur Kenntnis, dass sich die Schweiz und die EU bis heute nicht auf eine gemeinsame Interpretation des geltenden MRA und entsprechende Übergangsbestimmungen für Medizinprodukte mit Altzertifikaten (MDD-Produkte) geeinigt haben. «Wir hoffen, dass das letzte Wort noch nicht gesprochen ist. An einer pragmatischen Lösung, um die lückenlose Patientenversorgung in der Schweiz und in der EU aufrecht zu erhalten, müssen beide Seiten interessiert sein. Ich erwarte von der Politik, dass sie die Gesundheitsversorgung ihrer eigenen Bevölkerung über verhandlungstaktische Interessen stellt», verdeutlicht Vonlanthen. 

swiss-medtech.ch